Depressionen
Dr. med. Ruediger Dahlke
Wege aus der dunklen Nacht der Seele
Laut EU-Kommission ist ein Viertel der europäischen
Bevölkerung psychiatrisch behandlungsbedürftig und davon 80 % depressiv. Bedenkt man, dass die spanischen und
portugiesischen, die französischen und italienischen Bauern da weniger betroffen sein dürften, entfällt ein
erschreckender Anteil auf uns Wohlstandsbürger. Wenn ein Krankheitsbild so in den Mittelpunkt rückt, wie in den
letzten Jahren die Depressionen, ist das auch ein Zeichen für den
Zustand der betroffenen Gesellschaft.
Entsprechend der Logik von „Krankheit als Symbol“ können wir nichts aus der Welt schaffen und haben immer nur die Wahl der Ebene für
die Verwirklichung anstehender Themen. So haben wir keine Wahl, ob wir unser Herz weiten und wachsen lassen,
sondern dürfen uns nur für die Ebene entscheiden. Tragischer Weise tendiert die Mehrheit zur körperlichen
Verwirklichung in Form der Herz-Erweiterung oder Herzinsuffizienz, anstatt auf seelischer Ebene für ein
großes weites offenes Herz zu sorgen.
Ähnlich ist es uns nicht freigestellt, ob wir wachsen wollen, sondern
nur auf welcher Ebene. Wenn im Erwachsenenalter Wachstum in geistig-seelischer Hinsicht verweigert wird, kann es
ebenfalls in den Körper sinken und in Gestalt von Tumoren Probleme schaffen.
In der Lebensmitte haben wir auch nicht die Wahl, ob wir Ballast
abwerfen, sondern wieder nur auf welcher Ebene, wir dies tun wollen. Wer es auf der Bewusstseinsebene macht,
erspart es sich etwa in Form von Knochenentkalkung oder Osteoporose.
Ebenso ist Loslassen ein mit zunehmendem Alter immer zwingender anstehendes Thema. Es wäre ebenfalls besser
auf übertragener Ebene anzugehen als auf der Toilette. Dorthin treibt die schwellende
Prostata* im Verweigerungsfall die Männer nach der Lebensmitte immer häufiger.
„Wieder wie die Kinder zu werden“ ist heute nicht mehr sehr populär.
Allerdings ist auch dieser biblische Auftrag nicht in unsere freie Verfügung gestellt. Wer ihn verweigert, kann
das Thema auf der Körperebene in Gestalt von Morbus Alzheimer erleiden. Kindisch werden statt wieder wie ein
Kind die Welt mit den staunenden Augen des Kleinen Prinzen zu entdecken, ist eine deprimierende Wahl.
Ganz ähnlich hat die Depression mit ihren enorm steigenden Zahlen,
eine allgemeingültige Botschaft für unsere ganze betroffene Gesellschaft. Wir könnten sogar von einer modernen
Depressions-Gesellschaft sprechen.
Im Rahmen der Globalisierung wird die Geschwindigkeit der
gesellschaftlichen Abläufe immer schneller. Frei nach Mark Twain ließe sich heute mit noch mehr Recht sagen:
„Kaum hatten wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Geschwindigkeit“. Wer aber so schnell
ist, kann kaum noch innehalten. Wer nicht mehr inne hält, wird keinen Inhalt mehr erhalten. Ohne Inhalt aber
geht der Sinn verloren. Und ohne Sinn wird alles sinnlos. Inzwischen leiden immer mehr Menschen an der
Sinnlosigkeit ihrer Existenz. Abgeschnitten von jeder Lebensphilosophie und ohne religiöse Einbindung wird
das Leben nicht nur ziel- sondern eben auch sinnlos. Das aber beschwört nicht selten
Selbstmordabsichten herauf, und dann sind wir schon mitten in der Depression.
In der modernen Medizin spiegeln sich ganz ähnliche Tendenzen, die
sich mit folgendem Satz umschreiben lassen: „Wir wissen zwar nicht, was wir messen, aber wir tun es immer
genauer“. Auf solchen Wegen entsteht Unsinn und der wird in der Massierung zum Lebensproblem.
Verstärkend kommen die Rationalisierungstendenzen der modernen
Wirtschaft hinzu. Der Turbokapitalismus verführt Firmen – entsprechend verantwortungslos von einschlägigen
Beratern „gecoacht“ – dazu, immer mehr Leute auszustellen und die Verbliebenen zu nötigen, die Arbeit der Aus-
oder zynisch Freigestellten mit zu übernehmen. Nun lassen sich so genannte Leistungsträger zwar eine Zeit lang
durch Druck zu immer mehr Leistung pressen, aber irgendwann ist Schluss. Wenn keine Chance mehr besteht, am Ende
des Tunnels Licht zu sehen, der Schreibtisch nicht mehr leer wird, die Arbeit vor dem Wochenende nicht mehr zu
schaffen ist, nach dem Urlaub das alte Liegengebliebene mit den neu Angefallenen eine deprimierende Verbindung
eingeht, dann droht das Burn-out-Syndrom. Dieses halten auch schulmedizinische Psychiater für eine Vorstufe der
Depression.
Auf der anderen Seite des Turbos landen die Freigestellten immer
häufiger in der Arbeitslosigkeit oder in Niedriglohn-Jobs. Dass Arbeitslose, die gebetsmühlenartig jede Woche
mitgeteilt bekommen, dass sie nicht gebraucht werden, beziehungsweise dass das, was sie können, nicht reicht für
einen Job, vermehrt zu Depressionen neigen, ist schon Anfang der letzten Jahrhunderts im österreichischen
Marienthal hinlänglich belegt worden. In Deutschland hat es sich in den vergangenen Jahren der hohen
Arbeitslosigkeit sehr deutlich gezeigt.
Bei den Niedriglohn-Jobs ist gar nicht der niedrige Lohn das
(medizinische) Problem, sondern der „Job“. Ein Beruf ernährt Körper und Seele, ein Job nur den Körper, und das
macht die Seele auf Dauer krank. Sie braucht Nahrung durch einen Beruf, der sie ruft, der ihr Berufung ist. Wir
gehen aber Zeiten mit immer mehr Jobs und immer weniger Berufen entgegen.
Auch das hat Gründe in einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Wir
ignorieren zunehmend das Leben in Augenblick, in der Gegenwart. Die Bibel will uns letztere mit dem bekannten
Satz schmackhaft machen: „Sehet die Vögel des Himmels, sie säen nicht und sie ernten nicht und leben doch.“
Statt aber wie empfohlen „ganz entspannt im Hier und Jetzt“ zu leben, tendieren wir zunehmend dazu, „ganz
verkrampft im Wenn und Aber“ uns vor einer ungewissen Zukunft zu fürchten, während wir mit den Problemen der
Vergangenheit längst nicht fertig geworden sind. Diese Verirrung in der Zeit führt dazu, dass wir – vom
Schicksal oder wie immer wir diese übergeordnete Instanz nennen wollen - zunehmend in den Augenblick gezwungen
werden. Zwang aber ist immer unangenehm im Vergleich zu Freiwilligkeit.
Wenn in der sozialen Welt die Arbeitsverhältnisse zunehmend zu
Kurzveranstaltungen verkommen, beschuldigen viele die Unternehmer, wer aber soll schuld daran sein, dass
Beziehungen dieselbe Tendenz entwickeln. Auf der einen Seite wandelt sich die Lebensarbeitsstelle zur
Zeitarbeit, auf der anderen wird aus der „Ehe bis dass der Tod euch scheide“ eine Lebensabschnittspartnerschaft
mit der Tendenz zu One-night-stands. Beide Tendenzen rauben die Sicherheit und werden land-auf-land-ab beklagt.
Sie zwingen in den Augenblick, denn alles andere wird uns genommen. Die gemeinsame Vergangenheit zählt kaum noch
in der Wirtschaft, eine gemeinsame Zukunft wird immer weniger angeboten.
Die Ergebnisse zeigen sich auf gesundheitlicher Ebene. Wir wissen
heute, dass stabile Partnerschaften und sichere, sinnerfüllte Arbeitsverhältnisse eine Art Bollwerk gegen
Depressionen bilden. Beides aber geht den Bach hinunter. Anstatt darüber ständig zu Bejammern, könnten wir die
Gegenwart wieder entdecken. Wer den Augenblick im alten Sinn des „Carpe diem“ (siehe
Wikipedia) nutzt, kann sogar wieder Zukunft gewinnen. Wer seine Vergangenheit im Sinn einer Psycho-
beziehungsweise Schattentherapie, die diesen Namen verdient, aufarbeitet, kann am ehesten von ihr loslassen und
die Gewicht genießen. Drei Jahrzehnte Erfahrungen mit der Reinkarnationstherapie machen das sehr
deutlich.
Im Sinne von „Krankheit als Symbol“ kommen wir der Bedeutung der
Depression rasch auf die Schliche. Der Depressive tut nichts mehr auf Grund seiner Antriebsschwäche. Er fühlt
auch nichts mehr, was vielleicht das schrecklichste Symptom dieses schrecklichen Krankheitsbildes ist. Er denkt
im schlimmsten Fall – auf Grund des Sinnmangels – ständig über seine Selbstmordabsichten nach. Das aber ist
nichts anderes als eine – wenn auch extrem unerlöste - Beschäftigung mit dem Tod. Wir haben tatsächlich nicht
die Wahl, ob wir uns mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzen, sondern wieder nur auf welcher Ebene. Statt
die der Philosophie und Religion wählen heute immer mehr Menschen die der Selbstmordgedanken im Rahmen ihrer
Depression. Während aber erstere dem Leben Tiefe geben, führen letztere in immer verzweifeltere Zustände. Die
Frage „Strick oder Kugel, Gift oder Gas“ kann uns nicht weiter helfen.
So wie wir den Tod verdrängen, bleibt in der modernen Zeit auch die
Trauer auf der Strecke. Wer den Verlust eines Kindes oder geliebten Partners mit Psychopharmaka übersteht, hat
alle Chancen, später in eine Depression zu rutschen. Natürlich ist der Ratschlag moderner Ärzte, das Unfallopfer
gar nicht mehr anzuschauen und es sich mit den entsprechenden Mitteln leichter zu machen, gut gemeint. Aber wie
schon Brecht sagte, ist das Gegenteil von „gut“ nicht „böse“, sondern „gut gemeint“. So wird man mit dem Thema
jedenfalls nicht fertig und wer Trauer lange genug verdrängt, muss mit späteren Depressionen rechnen.
Die Schulmedizin hat den Ausdruck „endogene Depression“ glücklicher
Weise abgeschafft. Nun wäre es also denkbar, auch solche tiefen Depressionen zu verstehen und den Weg aus der
dunklen Nacht der Seele mit Bewusstsein zu gehen. Zwar sagen alle Psychiater von Rang und Namen heute, dass zur
medikamentösen Therapie immer auch Psychotherapie gehöre, leider meinen sie damit aber kaum je eine wirklich an
die Wurzeln des Übels rührende Schattentherapie, sondern die kognitive Verhaltenstherapie, die zwar an der
Oberfläche nützt und Rückfälle durch alle möglichen Tricks verhindern kann, aber für das wesentliche Anliegen
dieser Situation viel zu kurz greift.
Bei der Depression handelt es sich mythologisch um die Heldenreise
der Seele, die absteigen muss, um im Totenreich der Unterwelt dem eigenen Dunkel, dem Schatten und dem Tod
selbst, zu begegnen. Die großen mythischen Helden von Orpheus bis Odysseus haben diesen Abstieg vorgemacht und
ihre symbolischen Reisen könnten uns bis heute den Weg durch das tiefste Dunkel erhellen.
Aber auch moderne Heldenreisende könnten uns den Weg beleuchten.
Herrmann Hesses Depressionsschübe haben ihn nicht nur in die Toskana geführt, in jene Landschaft, die seiner
Seele Heilung verschaffte, sondern auch nach Indien, wo er Siddhartha schrieb und seinen Lebenssinn fand. Als
ich für mein Depressionsbuch seinen Lebensweg nachvollzog, wurde mir erst klar, wie sehr jeder seiner Romane
zugleich die Bearbeitung seiner eigenen lebenslangen Depression darstellte.
Spätestens mit der Lebensmitte stehen die Themen der Sinnfindung und
Auseinandersetzung mit dem Tod an. Die Probleme im Verweigerungsfall umschreiben wir heute mit modernen Worten
wie Pensionsschock, Leere-Nest-Syndrom oder Alterskrise. Der Pensionsschock aber zeigt doch nur, dass der ganze
Lebenssinn in die Arbeit gelegt wurde, das Leere-Nest-Syndrom, dass nur die Familie zählte und die Alterskrise,
dass kein Lebensplan existierte. Nur ein Sinn, der über dieses Leben hinausweist, hat die Kraft solch tiefen
Krisen wie der Depression entgegen zu wirken.
Bei einem so schweren Krankheitsbild müssten therapeutisch alle
Register gezogen werden. Und tatsächlich sind in „Depressionen –
Wege aus der dunklen Nacht der Seele“ noch eine große Fülle
anderer praktischer Mittel und Wege beschrieben, die alle ihren Wert haben können. Bevor man zum Beispiel
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer schluckt, könnte man daran denken, mit einer einfachen wie natürlichen
Rohkost-Variante seinen Serotonin-Spiegel ins Lot zu bringen und ein glücklicheres Leben zu führen.
Der Königsweg aber wäre rechtzeitige Psychotherapie im Sinne echter
Schattenbegegnung. Wer freiwillig sein Dunkel durchlichtet, wird erfahrungsgemäß nicht dazu gezwungen, wer
bereitwillig Sinn im Leben sucht, wird nicht in der Sinnlosigkeit versinken, wer freiwillig inne hält, wird
Inhalt finden und erspart sich Zwangsbelehrungen.
Zum Schluss noch ein Kurztest mit vier Fragen, der verraten kann, wie
gefährdet man ist. 1. Liebe ich die Arbeit, die ich mache? 2. Lebe ich mit dem Menschen, den ich liebe? 3. Liebe
ich den Ort, wo ich lebe? 4. Lebe ich so, dass ich morgen gehen könnte? Wer darauf spontan mit „ja“ antworten
kann, ist nicht gefährdet, wer öfter mit „jain“ reagiert, sollte sich im Sinne von „Depressionen – Wege aus der
dunklen Nacht der Seele“ um echte Vorbeugung bemühen.
* Schüssler Salze bei
Osteoporose
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